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Bolivien

Copacabana

Es war schon vorher klar, dass Bolivien, das Armenhaus Südamerikas, der schwierigste Reiseabschnitt werden würde. Das hat sich in vollem Umfang bestätigt. Aber es war auch der faszinierenste Abschnitt der gesamten Reise. Mein Reisebüro hatte Vorsorge getroffen und für mich die ganzen zweieinhalb Wochen im Land einen guia vorgesehen, immer denselben. Er heißt Miguel , spricht ziemlich gut deutsch, ist  24 Jahre alt und hat mich in Copacabana am Titicaca-See in Empfang genommen. Ein paar Monate zuvor bis zum Sommer 2007 hatte er ein Jahr lang in einem Internat der Caritas in Rheinland-Pfalz als Erzieher gearbeitet und so waren nicht nur die Verhältnisse in Bolivien zwischen uns Dauerthema, sondern auch die in Deutschland. Miguel wohnt immer noch bei seinen Eltern in Sucre, wenn er nicht gerade mit deutsch- oder englischsprachigen Touristen durch die Lande zieht. Seine Eltern sind beide Lehrer und das, obwohl er  Examen in Deutsch und Englisch hat, will er auf keinen Fall werden. Denn dann müsste er sich verpflichten, seine ersten Dienstjahre in einem abgelegenen Ort auf dem Land zu verbringen. Seine Eltern waren irgendwo in einer Schule im Urwald des Tieflandes tätig. Dort ist er geboren und aufgewachsen. Erst später konnte die Familie nach 10 Dienstjahren der Eltern ins heimatliche Sucre umziehen, immerhin die formelle Hauptstadt des Landes. Dazu käme noch der miese Verdienst, da sind Touristen allemal interessanter.

Copacabana ist zwar das wichtigste bolivianische Touristenzentrum am Titicaca-See, aber hier geht es ungleich ruhiger und gelassener zu als auf der peruanischen Seite. Man kann z.B. in kleinen offenen Restaurants am See leckeren Fisch essen, der kühlt allerdings durch die niedrigen Temperaturen schnell ab.  Von meinem Hotel aus hatte ich einen wunderbaren Blick auf den See vor der Kälte geschützt durch ein dickes Panoramafenster. In Puno war die Unterkunft mitten in der lärmigen Stadt, von Seeromantik keine Spur. Direkt am See sind dort nur Luxushotels. Oberhalb des Städtchens liegt der Kavalrienberg mit einer sehr katholischen Pilgerstätte. Es gibt dort richtige Weihrauchöfen, man hat von oben einen grandiosen Blick über den See. Miguel scheucht mich gnadenlos hinauf. Überhaupt schien es Miguels Spezialität zu sein, mich auf Hügel und Berge hinaufzuschicken. Meinen Widerstand, hauptsächlich ausgelöst durch ein massives Anstrengungsasthma, hat er immer sehr einfühlsam und mit viel Geduld gebrochen.

Wir sind mit einem kleinen Boot hinüber auf die Isla del Sol gefahren. Auf der Fahrt dorthin kann man bolivianisches Landleben sehr dicht beobachten. Man meisten hat mich eine Schweinehirtin beeindruckt, die ihre Tiere an der Leine zu ihrem Wühleplatz führte.  Es gibt dort sehr gut an die Landschaft angepasste Unterkünfte, aber selbstverständlich muss man über einen Hügel laufen, um die Insel zu erkunden. Auf der Insel hatten sich die letzten beiden Inka versteckt. Kurz vor Copacabana existieren auch noch die Reste eines banja del inca. Nachmittags war gleich der nächste Hügel dran. Auf seiner Spitze gibt es eine astronomische Anlage aus prä-Inka Zeiten. Es waren kaum Leute dort. Ein 12jähriger Junge erklärt uns die  Anlage, alles für 10 Bolivianos, etwa 1 Euro.

Die Fahrt geht weiter mit einem Auto. Unterwegs in Richtung  La Paz muss man eine Engstelle im See mit einer abenteuerlichen Fähre überwinden. Unser nächstes Ziel ist das Ruinenfeld von Tiahuanaco. Bisher kannte man dort nur das sogenannte Sonnentor, das einsam in der Landschaft stand. Ich hatte es mir riesig vorgestellt, in Wirklichkeit ist es sehr klein. In Bolivien regiert gegenwärtig Präsident Evo Morales, der erste Indigena auf dem Präsidentenstuhl eines Landes, das zu 70% indianisch geprägt ist. Er hat veranlasst, dass in Tiahuanaco nun intensiv gegraben wird. Durch jetzt schon freigelegten Ruinen bekommt man eine Ahnung davon, dass unter der Erde eine ganze Stadt liegt. Die Tiahuanaco-Kultur ist deutlich älter als die der Inka. Niemand weiß bis heute, warum sie ca. 1000 n. Chr. scheinbar ohne Eroberung von außen verschwunden ist.

La Paz

Abends haben wir La Paz erreicht. Es ist die politische Hauptstadt des Landes, Präsident und Parlament haben dort ihren Sitz. La Paz liegt auf 4000 m Höhe in einem Talkessel. Auf dem Weg dorthin muss man El Alto durchqueren. Wirkt La Paz eher bürgerlich und reich, es gibt dort beispielsweise mehr Hochhäuser als in Berlin, so ist El Alto sehr arm. Es ist eine eigene Stadt oben auf dem Altiplano. Dort ist es kalt und windig, durch den Zuzug von armen Landbewohnern wächst El Alto ständig. Beide Städte verkörpern in ihrem Nebeneinander die Gegensätze, die Bolivien zerreißen:
                    - arm gegen etwas weniger arm 
                    - indigen gegen mestizisch (Weiße sind eine Minderheit im Land)
                    - Hochland gegen Tiefland

Am Beginn unseres Rundgangs am nächsten Tag war es noch ruhig. Wir sind zum zentralen Platz gegangen, dort liegen Parlament, Präsidentenpalast und die Kathedrale der Stadt, ausnahmsweise ist sie nicht im Mestizenbarock erbaut. Die umliegenden Straßenzüge sind voller Bereitschaftspolizei. Wir beobachten, wie Evo Morales seinen Amtssitz verlässt in einem Geländewagen mit nur einem Polizeifahrzeug als Begleitung. Nur etwa 20 Minuten danach nähert sich eine große Demonstration dem Platz. El Alto marschiert. Mindestens die Hälfte der  etwa 10000 Teilnehmer sind Aymara-Frauen mit ihren typischen schrägsitzenden melonenähnlichen Hüten und dem rotweiß- gestreiften Tragetuch auf dem Rücken. Darin tragen sie einfach alles, aber hauptsächlich ihre Kinder, oft bis sie 5 Jahre alt sind. Die Demo ist friedlich aber sehr lautstark. Sie haben eine Art Böllerpistole, die ständig abgefeuert werden. Miguel meint zwischendurch auch den Knall von gezündeten Dynamitstangen gehört zu haben, dieselben, die die Bergleute verwenden.

Überhaupt steht in jedem Reiseführer , dass man sich in Bolivien von Demonstrationen grundsätzlich fernhalten sollte, da sie sehr schnell gewalttätig werden würden. Ich verlasse mich auf Miguel und seine Einschätzung des Risikos und bleibe. Zwischendurch gönnen wir unseren Ohren eine Erholungspause und gehen in die Kathedrale. Nun habe ich in meinem Leben vor allem in Berlin einige gewalttätige Demonstrationen erlebt, zuletzt beim G 8 Gipfel in Rostock. Miguel wollte von Rheinland-Pfalz aus dorthin fahren, aber seine Vorgesetzten der Caritas haben das bei Androhung seines Rauswurfs verhindert. Die Demo in La Paz ist an diesem Tag friedlich geblieben, nur die Trommelfelle waren einer harten Belastungprobe ausgesetzt. Das hat sich in den folgenden Tagen allerdings geändert.

Ich bin aus Miguels Schilderungen der Ziele der Demonstranten nur begrenzt schlau geworden. Vordergründig geht es um die Renta Dignidad, eine Art  Grundversorgung für alte Menschen, die Morales umbauen und verbessern will. Angeblich wollen die Demonstranten aus El Alto das alte System einer jährlichen Einmalzahlung beibehalten, aber ich zweifle an der Erklärung. Der wichtigere Grund für die Demo war für "El Alto" wohl der Streit um eine neue Verfassung sowie die Hauptstadtfrage. Morales hat sie ausarbeiten lassen um die Rechte vor allem der indigenas zu stärken. Er will auch die Zeitbegrenzung für Präsidenten im Amt aufheben und La Paz auch formal zur Hauptstadt machen. Die Demo sollte Druck auf ihn ausüben im Streit, der das Land zerreist, hart zu bleiben, denn in der verfassunggebenden Versammlung, die in Sucre tagt, hat er keine Zwei-Drittel-Mehrheit. Er will die Verfassung aber unbedingt auf legalem Wege durchsetzen.

Am nächsten Tag haben wir auf dem Weg nach Cochabamba eine Marschkolonne von Bergleuten beobachtet, die nach La Paz in derselben Sache unterwegs war. Sie kamen aus der Stadt Ouoro und waren schon mehere Tage unterwegs. Das Land ist wirklich stark politisiert. Miguels Haltung zu den Demonstranten ist einigermaßen ambivalent. Einerseits bewundert er sie und findet den Kurs von Morales richtig. Auf der anderen Seite verachtet er die "ewigen Marschierer" schon ein wenig, aber dass wird mir erst einige Tage später in Sucre deutlich.

Cochabamba

Die Stadt ist annähernd so groß wie La Paz und für bolivianische Verhältnisse reich und sehr geschäftstüchtig. Es fahren viele dicke Autos herum und die Häuser in den Vororten sind proper. Aber zu sehen gibt es hier wirklich nicht viel außer der riesigen Christusstatue auf einem Berg im Stadtgebiet, vergleichbar der in Rio. Tourismus gibt hier kaum. Was hat mich dann überhaupt dorthin getrieben? Nun, ich wollte von dort aus unbedingt mit dem Buscarril nach Aiquille fahren. Ich hatte von diesem eigenartigen Schienenfahrzeug gehört und wollte unbedingt damit fahren. Aber zunächst stand Cochabamba zur Besichtigung an. Auf  2500 Höhenmeter gelegen macht sich hier die tropische Hitze wieder bemerkbar. Also sind wir zur Christusstatue gegangen, dort führt eine Seilbahn hinauf, die war aber kaputt. Also besteigen wir den Berg und ich komme körperlich völlig fertig da oben an. Immerhin ist der Ausblick von dort oben ganz imposant. Wieder unten ist das Museum eines Zuckerrohrbarons, das wir als nächstes besuchen wollen, schon wegen der Mittagspause geschlossen, unsere Besteigung des Christus hatte wegen meiner Asthmaprobleme eben länger gedauert. Ich will eigentlich nur zurück ins Hotel, ausruhen. Hätte ich es bloß getan!!

Aber Miguel überredet mich auf seine charmante Art doch noch den Hügel von San Sebastian zu besuchen, den hatte das Reisebüro als dritte Sehenswürdigkeit der Stadt aufgeschrieben, dass würde schnell gehen, meint er. Er will sich gegenüber seinem Arbeitgeber nicht nachsagen lassen, er habe Programmpunkte ausgelassen. Der Hügel ist wirklich nur ein Hügel mit einem Denkmal, das an 200 Frauen und Kinder erinnert, die dort zu Beginn des 19. Jahrhunderts während des Unabhängigkeitskrieges von den Spaniern ermordet wurden. Drumherum gibt es Zierbüsche. Der Hügel liegt hinter  dem Fußballstadion der Stadt. Mir fällt sofort auf, niemand ist dort !!

Sonst sind immer ein paar Leute an solchen Orten, die betteln oder etwas verkaufen wollen. In Peru hatte mein inneres Alarmsystem funktioniert: Nirgendwo reinlaufen, wo wenig oder keine Leute sind. Gegen 12 Uhr mittags sitzen wir neben dem Denkmal und ruhen uns aus. Plötzlich stehen drei junge Männer vor uns ca. 20 Jahre alt. Sie halten uns Dolche vor die Nase, mit denen man auch eine Kuh zerteilen könnte. Erster Gedanke von mir ist, bloß keinen Widerstand leisten, gegen die drei hast du keine Chance. Meine körperliche Verfassung war wegen Christus sowieso nicht gut. Ich rücke sofort mein Bargeld raus in der Hoffnung sie irgendwie zu befriedigen. Weit gefehlt!!

Miguel wehrt sich, obwohl auch er keine Chance hat. Um ihn dazu zu bringen, seine Sachen rauszurücken, setzen die Typen mir einen Dolch an den Hals. Endlich gibt Miguel seinen Widerstand auf. Er holt einen Bauchgürtel heraus mit seinem Geld und über 200 Dollar, mit denen er die Ausgaben für die Reise bestreiten soll. Außerdem nehmen sie ihm  seine Kamera und sein Handy weg. Sie kommen auf die Idee, dass ich ja auch so was haben könnte. Hatte ich! Dort sind alle meine 4 Karten und mein gesamtes Bargeld in Dollar und Euro drin. Man hatte mir geraten, alles am Körper zu tragen und nichts im Hotel zu lassen, denn bolivianische Hotels haben keinen Safe. Meine Kamera ist weg und mit ihr über 300 Bilder,  über 4 Wochen der Reise, weg ! Sogar ein altes Schweizermesser und einen kleinen Fahrradtacho, den ich als Uhr benutze, nehmen sie mit, nur mein Pass interessiert sie nicht. Die Halunken ziehen in aller Ruhe ab, dann rennt Miguel wie von Sinnen über den Hügel, sucht nach ihnen, sie sind im Gebüsch verschwunden. Ich bleibe zuerst wie benommen sitzen und bin über mich selbst erstaunt: Keine Sekunde habe ich daran gedacht, dass der nächste Moment mein letzter sein könnte. Allerdings war ich in den nächsten Wochen leicht reizbar und hätte manchmal, wenn etwas schief ging, gelassener sein können.

Glück im Unglück: Die Typen haben die Karte zu Miguels Sparkonto nicht gefunden, sie steckte hinter seinem Ausweis. Von seinem Privatgeld hat er dann die nächsten zwei Tage meiner Reise vorfinanziert. Vom Hügel runter holt er Geld und ruft seinen Arbeitgeber, das Reisebüro in Sucre an. Die schimpfen ihn aus, warum er mich denn an einen so gefährlichen Ort geschleppt hätte. Dabei hatten sie ihn auf die Agenda gesetzt. Er soll unbedingt für die Versicherung (!) ein Polizeiprotokoll aufsetzen lassen. Ich rufe in Deutschland an, um meine Karten sperren zu lassen.  Bei meiner Sparkasse ist das kein Problem, bei der Karstadt-Quelle-Bank sehr wohl. Man will in einer solchen Situation mit einem Menschen sprechen und kriegt einen automatischen Ansagedienst, der auf eine 0180iger Nummer verweist. In Südamerika gibt es an jeder Ecke ein Locutorio, Telefonkabinen meist mit Internet, aber eine deutsche 0180iger Nummer kann ich aus einem bolivianischen Locutorio nicht anrufen. Nach einem Telefonat mit Mastercard-USA kann ich die Nummer sperren lassen, aber in das Gespräch mischt sich ständig der Sprechautomat der Karstadt-Quelle-Bank. Nie wieder Karstadt-Quelle Bank!!

Es ist in diesen durchglobalisierten Zeiten kein Problem an Geld oder eine neue Karte heranzukommen, vorausgesetzt die Hausbank bestätigt die Bonität. Es gibt gebührenfreie Nummern von Visa oder Mastercard, sie stellen ein paar Kontrollfragen. Zwei Tage nach dem Überfall hatte ich wieder Geld, ich konnte den gewünschten Betrag bei Western Union in Sucre abholen. Selbst in kleinen Städten gibt es eine Filiale. Gut eine Woche später lieferte mir DHL eine Emergency credit card in ein Hotel. Aber meine Kamera mit Bildern von 5 Wochen meiner Reise sind unwiederruflich weg. Eine Sicherungskopie hatte ich nicht machen lassen.

Die bolivianische Polizei war das Folgeerlebnis des Überfalls. Nachdem Miguel erstmal einem abweisenden secretario unser Anliegen klargemacht hat, kümmert sich ein Zivilpolizist um uns. Er sei ein richtiger Polizist, betont er, es gebe auch falsche Polizei. Nachdem er uns viele Bilder von gesuchten Verbrechern gezeigt hatte, alle waren zu alt, setzt er uns in einen nagelneuen PKW nachdem er sich eine sehr große Schusswaffe offen umgehängt hatte. Er fährt mit uns durch ein Elendsviertel am Fuß des Hügels, dass man von oben nicht sehen kann. Wir sollen nach den Typen Ausschau halten. Er informiert auch die Bereitschaftspolizei in der Stadt, die dort reichlich vorhanden war wegen des Verfassungskonflikts. Cochabamba ist eher Anti-Morales. Nun, die Polizei hat sich wirklich Mühe gegeben, aber außer einer Seite Protokoll, auf dem einzigen alten Computer der Wache geschrieben, ist nichts herausgekommen.

Miguels Mutter, die er auch informiert hatte, hat von Sucre aus das geklaute eingeschaltete Handy angerufen. Die Gangster sind wirklich rangegangen und haben erzählt, sie seien auf dem Weg nach La Paz. Abends sitzen wir völlig erschöpft in einem Restaurant. Wir versuchen etwas zu essen, stellen aber fest, dass unsere Mägen wie zugeschnürt sind. Aber wir beschließen, die Reise wie geplant fortzusetzen.



Das Buscarril ist wirklich ein Highlight. Nie in meinem Leben bin ich in einem abenteuerlicheren Schienenfahrzeug gefahren. Aber ich habe keine Kamera, um die Fahrt zu dokumentieren. Das folgende Foto ist der Webseite www.frankship.com/cbolivia.html entnommen.

Nach unserem Aufenthalt bei der Polizei versuchen wir auf dem großen verwaisten Bahnhof von Cochabamba eine Fahrkarte zu kaufen. Der freundliche Stationsvorsteher erklärt uns, das Fahrzeug sei noch nicht aus der Gegenrichtung eingetroffen.  Erst dann könne man Fahrkarten für den nächsten Tag kaufen. Der "Zug" sei 2 km vor dem Bahnhof steckengeblieben. Das Buscarril fährt dreimal in der Woche nach Aiquille einer Kleinstadt 210 km entfernt, dreimal kommt es von dort.

Am nächsten Morgen kriegen wir die zwei "Logenplätze"  neben dem Fahrer. Unser Gepäck wird auf dem Dach festgeschnallt. Das Buscarril, offiziell ein Schienenbus, ist ein auf Schienenräder gesetzter alter amerikanischer Schulbus mit 24 Sitzplätzen. Es waren während der Fahrt durchschnittlich 40 Leute an Bord. Neben dem Fahrer hat das Fahrzeug einen adjudante, der Junge für alles. Noch in Cochabamba muss er ständig raus, weil das Unwetter am Abend zuvor, weshalb das Gefährt steckengeblieben war, erneut die Schienen mit Schlamm bedeckt hatte. Er muss sie mit der Schaufel freikratzen. Auf der weiteren Fahrt liegen oft Felsbrocken auf der Strecke, der adjudante springt raus und schafft sie weg, genauso wie einen Betrunkenen, der eine Schiene als Kopfkissen benutzt hat. Kleinere Steine räumt der Fahrer mit dem Schienenräumer weg. Der kaut unaufhörlich Coca-Blätter.

An Benutzerfreundlichkeit übertrifft das Buscarril die Deutsche Bahn bei weitem, überall entlang der Strecke kann man aus- oder einsteigen. Der adjudante wuchtet dann das Gepäck der Reisenden auf das Dach und schnallt es fest. Häufig sind es schwere Kartoffelsäcke, die oft sehr alte Frauen auf dem Markt in Aiquille verkaufen wollen. Überhaupt ist die Mehrzahl der Fahrgäste weiblich, fast ausnahmslos sind es Quechua. Es gibt in den Täler entlang der Strecke keine nennenswerten Straßen, deshalb überlebt die Bahn. Zu den seltenen Touristen, die hier lang kommen, ist man zurückhaltend aber freundlich. In einem Dorf an der Strecke gibt es Mittagessen, Quinoasuppe mit Hühnerschenkeln. Niemand der bitterarmen Leute aus diesen Tälern würde auf die Idee kommen, uns auszurauben. Nach 10 Stunden sind wir am Ziel um eine große Erfahrung reicher. Miguel betont mehrfach, was ich mir doch für eine ungewöhnliche Route ausgedacht hätte.

Sucre

In Aiquille, einer verschlafenen Kleinstadt ohne größere Sehenswürdigkeiten, erwartet uns Lisa vom Reisebüro in Sucre. Sie  erzählt, wie schlimm die politische Situation dort jetzt sei. Am nächsten Tag erfahren wir, dass es viel schlimmer gekommen war. Die Auseinandersetzung um die neue Verfassung hatte die sonst so verschlafene Universitätsstadt Sucre mit voller Härte erreicht. Was war passiert? Am Tag unserer Ankunft in Aiquille hatten Anti-Morales Demonstranten Bauern, die für Morales und seine Pläne waren und sich in Räumen der Universität einquartiert hatten, aus der Stadt Sucre verjagt. Anschließend hatten dieselben Demonstranten das Polizeihauptquartier von Sucre attackiert und einem Polizisten die Kehle durchgeschnitten. Die Polizei erkannte ihre Unterlegenheit  und zog sich in die Stadt Potosi zurück. Beim Rückzug wurde sie weiter angegriffen und hatte dann mit scharfer Munition geschossen. 3 Demonstranten starben. Danach wurde das Polizeihauptquartier besetzt, alle noch vorhandenen Computer und Waffen gestohlen und das Gebäude in Brand gesteckt. Außerdem wurden 108 Gefangene des örtlichen Gefängnisses auf freien Fuß gesetzt. Die haben dann in den nächsten Tagen für erheblichen Ärger gesorgt.

Lisa hat uns ein Fahrzeug besorgt für die Fahrt nach Sucre, der reguläre Bus fährt wegen der Unruhen nicht. Bis an den Stadtrand von Sucre ist alles friedlich. Kurz vor der Stadt jedoch haben die aus der Stadt vertriebenen Bauern die Straße mit schweren Felsbrocken blockiert. Unser Fahrer weigert sich weiterzufahren. Sein Fahrzeug ist seine Existenz, die will er nicht aufs Spiel setzen. Nachdem ein Bauer misstrauisch mein Gepäck beäugt hat, beschließen wir in die Stadt hineinzulaufen. Die Bewohner sind überwiegend gegen Morales, haben ihrerseits mit Autos den Zugang zur Stadt versperrt. Sucre liegt in einem Talkessel, von oben sieht man mehrere schwarze Rauchsäulen. Wir müssen 5 Kilometer in die Stadt hineinlaufen, Gott sei dank geht es fast immer bergab. Erst jetzt stelle ich fest, dass ich zuviel Gepäck dabei habe.

Bei Miguels Eltern checken wir zuerst die Lage, ob ich überhaupt mein Hotel erreichen kann. Ich kann. Das Hotel ist ein alter Bau im Zentrum der kolonialen Altstadt, ich war der einzige Gast. Vor dem Eingang schwelt noch ein Haufen von verbrannten Autoreifen vor sich hin. Hinter mir verrammelt der Portier den Eingang mit schweren Holztüren. Nachts hört man viel Gegröle, vereinzelt wird auch geschossen. Ich schicke den spanischen Baumeistern posthum einen heißen Dank ob der schweren Türen. Bevor ich mich im  Hotel "verbarrikadiere", gehen wir am zentralen Platz etwas essen im einzigen offenen Restaurant. Auf dem Platz tragen Demonstranten die Särge mit den drei getöteten Demonstranten vorbei und skandieren Evo (Morales) assessinado (Morales Mörder).

Am Tag darauf versuchen die Bewohner der Stadt so etwas wie Alltag einkehren zu lassen. Die Märkte und Geschäfte sind offen, aber die Nervosität ist überall spürbar. An jeder Ecke stehen Grüppchen und diskutieren das Geschehen. Auch die Nationalversammlung hat die Flucht nach Potosi angetreten. Ich hole mein emergency cash bei Western Union. Die Banken sind gesichert durch schwerbewaffnete Wachleute. Ich schaffe das Geld schleunigst ins Hotel. Im Cafe Berlin treffe ich ein Schweitzer Ehepaar. Sie arbeiten für eine Hilfsorganisation und wollen nur noch weg. Sie sagen, es sei sehr gefährlich, draußen herumzulaufen, sie seien nur noch mit dem Taxi unterwegs.

Wieder einen Tag später sind die Blockaden aufgehoben. Ich versuche ein normales Touristenprogramm mitzumachen, aber es fällt schwer. Wir fahren auf der Straße, auf der wir gekommen sind, zurück zu einem Steinbruch, in dem Dinosaurierspuren gefunden wurden. Ein richtiger "Dino-Park" ist dort gebaut worden, neben der kolonialen Altstadt sicherlich die wichtigste Sehenswürdigkeit der Stadt. Aber für den nächsten Tag ist wieder eine Blockade angesetzt nach der Beerdigung der drei toten Demonstranten. Der Zug, mit dem ich nach Potosi fahren sollte, verkehrt nicht. Das Reisebüro ist aufs neue flexibel. Um fünf Uhr morgens, eine Stunde vor Blockadebeginn, verlasse ich die Stadt in einem Auto Richtung Potosi.

Ich habe in meinem Leben viel Brutalität auf Demonstrationen erlebt, vor allem in Berlin. Oft genug ging dort die Gewalt von der Polizei aus. Aber in Sucre waren meine Sympathien eindeutig auf seiten der Polizei. Ich habe es fast widerwillig festgestellt. Man muss bei allen Fehlern, die gemacht wurden, der Regierung eines zugute halten: Beim Rausfahren aus der Stadt habe ich am Rand eine Armeekaserne entdeckt. Die Armee hat in Bolivien in den Zeiten der  rechten Diktatur ständig gepuscht und viele Menschenleben auf dem Gewissen. Die Soldaten blieben während der Auseinandersetzung in der Kaserne, ihr Oberbefehlshaber (Morales) hatte ihnen nicht befohlen, die Polizei zu unterstützen. Die Zahl der Toten wäre sonst wesentlich höher gewesen.

Potosi

Potosi haben wir schon um acht Uhr morgens erreicht. Der Fahrer hatte ein rasantes Tempo vorgelegt. Ich hätte mir die Landschaft lieber aus dem langsam aus dem Zug heraus betrachtet. Die Stadt begrüßt uns mit schneidender Kälte. Die Stadt liegt auf 4000 Höhenmetern, das Hotel hat eine Heizung und ich habe mein warmes Fleece in Cochabamba im Hotel hängen lassen. Der Cerro Rico, deutsch meist Silberberg genannt, thront über der Stadt, die mal die größte in Amerika und im 16.Jahrhundert möglicherweise die reichste der Welt war. Zerkratzt sieht er von außen aus, im Inneren hat er die Struktur eines Schweizer Käses. Seit über 400 Jahren werden wertvolle Metalle aus ihm herausgeholt. Immer noch kratzen 10 selbstständig arbeitende Kooperativen die Reste heraus.



Ein Zubrot verdienen sie sich inzwischen mit Führungen für Touristen, die bei laufendem Betrieb ein Stück ins Innere des Berges geführt werden. Niemand weiß genau, wie viele Menschen in ihm ihr Leben gelassen haben. Die Führung beginnt außerhalb auf einem Markt, dort sollen wir Geschenke für die Bergleute kaufen, Coca-Blätter und Getränke, auch müssen wir etwas haben, dass wir dem "Berg-Geist" opfern können. So verlangt es der Aberglaube. Auf dem Markt werden auch Dynamit-Stangen frei verkauft, simple Hüllen aus Zeitungspapier gefüllt mit einem rosaroten Granulat und mit einem Stück Zündschnüre versehen. Dieser Markt ist offiziell der einzige in Bolivien, auf dem man legal Dynamit kaufen kann. Mit Gummistiefeln, Arbeitskleidung und Helm versehen laufen wir in den Stollen hinein. Mit dabei ist ein junger Amerikaner aus Alaska, der dort in einer Mine arbeitet. Der Kontrast könnte für ihn nicht größer sein. Obwohl wir nur etwa 300 m in den Berg hineinlaufen, ist das Gewirr von Gängen, Pressluftleitungen und Lorenschienen verwirrend und beängstigend. Ab und zu kommen uns völlig eingestaubte, meist sehr junge Bergleute entgegen, die eine übervolle Lore zum Ausgang schieben. Für uns sieht die Ladung aus wie ein bloßer Haufen Dreck.



In einer Nebenkammer, eine Art Pausenraum, sitzt der "Berg-Geist". Er sieht ein bisschen aus wie eine Karnevalsfigur, aber unser Bergführer meint, man müsse ihn gut behandeln. Man muss ihm Opfer bringen, damit kein Unglück geschieht. Er gießt ihm reinen Alkohol übers Haupt und legt ihm Coca-Blätter auf den Kopf und den übergroßen Phallus.

Ich bin froh, wieder draußen zu sein. So stelle ich mir die Arbeitsbedingungen im Bergbau Anfang des 20.Jahrhunderts vor. Ein Besuch des Cerro Rico ist ein Muss jeder Bolivien-Reise. Potosi ist übrigens viel touristischer als ich gedacht habe. Unbedingt muss man sich dort auch die Casa de la moneda anschauen, heute ein Museum. Früher wurde dort das Silber der Mine zu Münzen gepresst. Nach Karl Marx hat an solchen Orten die ursprüngliche Akkumulation des Kapitalismus begonnen.

Salar de Uyuni

Eigentlich sollte uns ein Auto nach Uyuni bringen, meiner letzten Station in Bolivien. Aber es tauchte nicht auf. Später kriegen wir raus, dass der Fahrer an einer Tankstelle randaliert hatte wegen der Höhe der Tankrechnung. Der Tankstellenbesitzer hatte daraufhin das Fahrzeug beschlagnahmt als Pfand für den angerichteten Schaden. Der auf der Strecke geplante Besuch in Pulacayo fiel also zunächst aus. Also fahren wir mit einem klapprigen, ziemlich dreckigen Bus nach Uyuni. Die Fahrt geht über eine Schotterpiste, nur ca. 3000 km Straße in Bolivien sind asphaltiert. Die Gegend wird immer wüstenhafter. Es gibt mehrere merkwürdige Polizei- und Militärkontrollen an der Strecke. Kurz vor Uyuni kann man von oben auf den riesigen Salar de Uyuni schauen, dem größten Salzwassersee der Welt, der fast immer ausgetrocknet ist.

Die kleine Stadt Uyuni ist Ausgangspunkt für fast alle Touren in den Salar und die südlich angrenzenden Wüsten. Uyuni ist auch der einzige Eisenbahnknotenpunkt des Landes, je eine Strecke geht nach Chile, nach Argentinien und in den Norden nach Ouruo.  Wir gehen auf eine dreitägige Jeep-Tour, 6 Fahrgäste, eine Köchin und der Fahrer. Beide sind waschechte Aymara. Dabei sind außer Miguel und mir, Andres und Andres aus Kolumbien, Lisa aus Irland, Jürgen aus Deutschland, eine immer gut gelaunte Truppe. Wir fahren, nachdem wir zuerst den Eisenbahnfriedhof  von Uyuni angeschaut haben, in den Salar hinein, eine brettebene weiße Fläche bis zum Horizont.

An einer Stelle gibt es eine Süßwasserquelle, an einer anderen ein inzwischen wieder stillgelegtes Hotel aus Salz. Unser Ziel ist die Isla des Pescadores, die Fischerinsel also. ein großer, kakteenbewachsener Felsbrocken im Salar. Weit und breit gibt es hier keine Fische. Judith, die Köchin, bereitet für uns das Mittagessen auf dem Campingkocher.

Abends verlassen wir den Salar und übernachten im Ort San Juan in einer "einfachen" Unterkunft. Es gibt dort pro Jeep-Besatzung einen Raum wie auch in der nächsten Nacht. Hotels gibt es nicht. Am zweiten Tag durchfahren wir eine Hochgebirgswüste, die unglaublichste Landschaft,die ich je in meinem Leben gesehen habe. Vulkane und bizarre Felslandschaften erinnern an das Innere von Island. Die Luft ist dünn, es ist kalt, den höchsten Punkt erreichen  wir auf 4800 m Höhe in Sol de Manana, einem Feld voller brodelnder Schlammtöpfe. Wir sind in der Nähe der Grenze zu Chile, dort gibt es sogar eine aktiven Geysir (Tati). Noch unglaublicher ist die Fauna der Region. Rosarote Flamingos stehen in Salzseen, z.B. der Laguna Colorado und der Laguna Verde, und picken im extrem salzigen Wasser herum. Von was leben die bloß? Wir sehen auch viele Vicunias, die scheueste aller südamerikanischen Kamelarten. Lamas halten es hier nicht mehr aus, nicht der Ansatz von Vegetation ist zu sehen. Aber die Vicunias scharren im braunen Wüstenboden und holen etwas heraus, aber was?



An der Grenze zu Chile setzen wir Andres und Andres ab. Bis nach San Pedro de Atacama sind es nur noch 20 km. Ein chilenischer Kleinbus nimmt sie mit. Auf der langen Fahrt zurück nach Uyuni kommt uns ein Jeep entgegen. Der Fahrer gibt uns Zeichen zum Halten. Am Steuer sitzt zu unserer Überraschung der junge Mann aus Alaska, der mit uns im Cerro Rico war und schaut sehr gestresst aus. Hinter ihm im Jeep sitzen zwei völlig verängstigt dreinschauende junge Frauen. Was ist mit dem eigentlichen Fahrer? Er sitzt auf dem Beifahrersitz, steigt aus und wankt uns entgegen. Er ist völlig betrunken. Miguel vermutet eine Doppelwirkung von Schnaps und Coca-Blättern. Der junge Mann aus Alaska hat ihm das Steuer weggenommen, sie wollen nach Chile, wissen aber nicht wohin sie fahren sollen. Es gibt in der Wüste keine Straßen, nur viele verwirrende Jeepspuren. Johnny, unser Fahrer, erklärt ihm die Route anhand von Bergkuppen. Wir fragen ihn, ob er den Fahrer kennt. Er nickt finster und schweigt sich aus.

Pulacayo

Zurück in Uyuni brechen wir am letzten Tag auf, um den Besuch in Pulacayo nachzuholen. Normalerweise halten Touristen dort nur an, um alte Dampfloks zu besichtigen. Pulacayo war einmal eine 20000 Einwohner Stadt, die von einer der größten Minen des Landes gelebt hat. Die staatliche Bergwerksgesellschaft Comibol hat sie 1995 geschlossen. Nur noch 500 Leute wohnen dort, eine Geisterstadt. Es gab dort mal ein Krankenhaus, Kinderspielplätze, ein Sportstadion, Theater, Kinos, Kaufhäuser.

Ein älterer ehemaliger Bergmann führt uns herum. Er zeigt uns voller Stolz den Raum in dem die bolivianische Gewerkschaftsbewegung gegründet wurde. Die Werkzeugmaschinen des Bergwerks sind neueren Datums und werden von einem einsamen Arbeiter gepflegt. Das Militär bewacht die ganze Anlage. Unser Führer meint, die Mine sei geschlossen worden, um den widerborstigen bolivianischen Gewerkschaften das Rückgrad zu brechen. Angeblich lohnt sich der Abbau nicht mehr. Aber warum wird dann die Mine so streng bewacht? Wir kriegen es nicht heraus. 

Am Abend desselben Tages fahre ich mit dem Zug Expresso del Sur an die argentinische Grenze und verabschiede mich von Miguel. Ohne ihn wären mir viele Aspekte in diesem Land verschlossen geblieben. Die 2 1/2 Wochen sollten die anstrengensten und gefährlichsten der ganzen Reise bleiben. Ich habe den Besuch nicht bereut. Ich konnte mich an großartigen Landschaften begeistern und habe Sozialgeschichte sehr dicht vor Ort studiert. Vor allem aber hoffe ich, das es der Präsident Morales und seine Anhänger schaffen, das Land in ruhigeres Fahrwasser zu bringen und die soziale Lage der Bewohner des Hochlandes zu verbessern. Mein Sohn schrieb mir, dass von alldem, was ich dort politisch erlebt habe, nichts in der Zeitung gestanden habe oder im Fernsehen berichtet worden sei, mit der rühmlichen Ausnahme der TAZ. Südamerika ist halt irgendwo da unten auf der Landkarte. Islamische Terroristen gibt es dort nicht, alles nicht so interessant also.